Auf annähernd jeder Retro-Veranstaltung, auf der wir mit dem Vintage Flaneur sind, passiert dies (und jedes Mal ärgert und beschäftigt es mich über einen langen Zeitraum): Irgendwann kommt ein meist älterer Herr zu uns an den Stand, grinst mir etwas verschwörerisch zu und sagt in diesem einen bestimmten Tonfall: „Jaja, damals, da waren Frauen noch echte Frauen!“ oder etwa „Damals, da durften Männer noch Machos sein!“ Auch als Facebook-Kommentar unter unseren Bilder kommt das immer mal wieder vor. Jedes Mal fällt es mir schwer, nicht extrem unhöflich zu werden oder anzufangen zu lachen. „Vintage im Kopf“ nennen das manche, und damit ist natürlich nichts Positives gemeint.
Das Problem hier ist offensichtlich nicht, dass den Herren Damen in Kleidern gefallen (man darf Frauen in Kleidern attraktiv finden, das ist legitim). Das Problem sind die Haltungen, die dahinterstehten. Gemeint ist, dass diesen Herren das Gefälle fehlt, dass es damals zwischen Frauen und Männern gab (und auch heute noch viel zu oft gibt): Der Mann steht über der Frau.
Frauen hintern Herd!
In Wahrheit ist ja nichts Schlimmes dabei, wenn sich ein Päärchen zusammensetzt und aus diesen und jenen Gründen gemeinschaftlich entscheidet, dass es in sein (also des Päärchens) Leben am besten passt, wenn die Frau sich um Kinder und Haushalt kümmert und der Mann arbeiten geht. Genauso wie es etabliert und möglich sein sollte, dass unser Päärchen entscheidet, dass es besser passt, wenn der Mann zu Hause bleibt und die Frau arbeitet. Oder die beiden einen ganz anderen Entwurf für sich finden, in dem beide beides tun. Wichtig ist dabei, die Freiheit, die Gleichberechtigung und die Gewissheit, seine Bedürfnisse beachtet zu wissen, von Mann und Frau.
Ausgerechnet zu mir, einer Selbstständigen, zu kommen und zu erwarten, dass ich mich für ein völlig veraltetes Beziehungs- und Rechtskonstrukt ausspreche, in dem die Frau im Zweifel nicht die Wahl hatte, weil ihr Mann ihr das Arbeiten verbot: Das ist absurd. Und auch wenn unser Paar NICHT aus Mann und Frau besteht sondern homosexuell ist: Liebe ist Liebe!
Wie ist hier die Rolle des femininen Looks?
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Gleichberechtigung für mich nichts mit „gleicher Kleidung“ zu tun hat. Ich möchte die Freiheit haben zu tragen, was ich will, ohne dass deswegen jemand anderes meint, über mir zu stehen. Ich möchte Kleider tragen dürfen, aber nicht müssen. Und wenn es eine Hose sein soll, auch gut! Ich möchte feminin aussehen dürfen, aber nicht müssen. Und ich räume dieses Recht auch jedem anderen ein.
Frauen sehen heute so scheußlich aus!
Unsagbar herabwürdigend sind Äußerungen dieser Art. Wir reden hier über Menschen mit Geschichten, Mühsalen und Freuden, eben einem kompletten Leben. Wie frech, einfach so über sie zu urteilen! Wenn ich Frauen vorschlage, sich die Haare zu machen und sich ein schönes Kleid anzuziehen (oder auch eine tolle Hose), dann nicht mit dem Gedanken: Echt, jetzt zieh dich mal ordentlich an! Sondern in dem Wissen, dass ein positiver Blick auf sich selber das ganze Leben verändern kann.
Ich beobachte immer wieder (auch an mir selber), dass Frauen, die sich nicht um sich kümmern, mit einem schlechten Selbstwertgefühl kämpfen. Was wiederum dazu führt, dass sie sich nicht um sich kümmern. Der Selbstwert leidet weiter. Sie arbeiten sich krumm als Mutter und/oder im Job und stecken trotzdem in diesem Teufelskreis fest, der ihnen sagt, dass sie nicht genügen. Unterstützt von den Herren der Schöpfung, die solche blöde Sprüche von sich geben. Leider auch von Frauen, die es besser wissen sollten. Und von Leitbildern der Medien, die suggerieren, dass man nur gut ist, wenn man arbeitet, Mutter ist, den Haushalt schmeißt, Sport macht und nebenher immer super aussieht. Und das alles ohne die geringsten Anzeichen von Erschöpfung (im Zweifel gibt es gegen diese sicher ein Deo oder eine Creme!)
Was ich mir und anderen wünsche und wonach ich suche, ist ein Weg zum besseren Selbstwert. Und in einer Fülle von Möglichkeiten, ein positives Bild von sich selber zu haben und sich attraktiv zu finden, ist der Vintage Stil eine. Sie ist nicht besser und nicht schlechter als viele andere Wege.
Natürlich muss man übrigens nicht jeden modischen Trend oder jedes Kleidungsstück gut finden. Und man darf da auch zu seiner Meinung stehen. Aber mit Respekt und dem Wissen, dass der, über den man da urteilt, mehr ist, als nur eine Oberfläche, die einem gerade nicht in den Kram passt.
Und by the way: Selbstredend sind die meisten Herren, die mir mit solch einem wie anfangs erwähnten Spruch kommen, selber eher grenzwertig bekleidet.
Vintage im Kopf andersherum
Vintage im Kopf negativ ist also klar: Sich selber über andere erheben und über sie urteilen, sei es aufgrund des Geschlechtes, der Sexualität, der Religion oder der Nationalität oder auch wegen so banaler Dinge wie Tattoos.
Der Vintage Flaneur aber sollte schon immer für „Vintage im Kopf“ auf eine positive Art stehen. Sein Leben entschleunigen, Persönlichkeit und persönlichen Kontakt pflegen, sich selbst, andere und die Welt respektvoll behandeln. Das ist unser Weg. Das verbinde ich mit diesem Look.
Und, das sei auch gesagt, besagte Herren, die der Aufhänger für diesen Aufschrieb waren, sind die Ausnahme.
In Ausgabe 20 des Vintage Flaneurs finden Sie übrigens einen spannenden Artikel über einige der vielen historischen weiblichen „Role-Models“: Vom Blaustrumpf über das Flapper Girl hin zur „klassischen Hausfrau“, über die wir hier redeten.
Haben Sie auch ähnliche Erfahrungen gemacht? Oder ganz andere?
Fotocredits: Startbild aus Ausgabe 27 des Vintage Flaneurs, Foto: Katharina Ke, H&M: Jessels Vintage Hair und Makeup, Model Tessa Janine, Kleid via TopVintage, Accessoires via Johns Vintage
Cover Ausgabe 20: Foto: Damona Art, H&M: Monika Gassmann, Models: Seraphine Strange in Hose und Hemd von Mademoiselle Tambour und Fay Loren in einem Kleid via TopVintage