Veröffentlicht am 4 Kommentare

Die Schlüssel aus Breslau

Ich habe, wie so viele, eine Art Schatz-Schublade. Neben anderen angesammelten Preciosen befindet sich dort drin ein alter, etwas auseinanderfallender Stoffbeutel, gehäkelt auss schwarzer Wolle, mit Fransen. Er wurde im Handarbeitsunterricht von meiner Urgrußmutter hergestellt. Anders als man meinen könnte, ist aber nicht dieses an sich schon tolle Stück der Kern des ganzen: Die Tasche beinhaltet einen auseinanderfallenden Zettel und einen alten Schlüsselbund, den eigentlichen Schatz. Denn bei diesem auf den ersten Blick so unauffälligen Schlüsselbund handelt es sich um ein Stück meiner Familiengeschichte. Meine Urgroßmutter schloß damit sorgfältig im Januar 1945 alle Türen ihrer Wohnung in Breslau ab, bevor sie sich aufmachte und in den Westen floh. Sie hatte nur das Allernotwendigste gepackt und ließ alles hinter sich zurück, ihr ganzes Leben. Der Schlüsselbund drückt die Hoffnung aus, eines Tages nach Hause zurückzukehren und dort alles unversehrt vorzufinden.

Ich könnte nun lang und breit die Geschichte weiter erzählen, aber es reicht wohl zu sagen, dass sie viele Jahre später im Rheinland starb, wo meine Familie heute noch lebt. Der Schlüsselbund, der die Türen, für die er gedacht war, nie wieder öffnete, spricht für mich so viel mehr als Worte. Nicht zuletzt weil Schlüssel sowieso die Fantasie anregen: Sie sind Symbol für Schutz, aber auch für Geheimnisse und verstecke, für Macht, für Wissen. Sie machen neugierig, weil sie alle Geschichten haben. Wozu gehört der Schlüssel? Was befindet sich hinter der Tür oder in dem Kästchen?

Wussten Sie, dass der auch klassisch so symbolträchtige Schlüssel oft Kriegsgeschichten erzählt? In Wien gibt es ein Denkmal, sehr unauffällig an und für sich: Eine durchsichtige Scheibe im Boden eines ehemals jüdischen Viertels. Unter der Scheibe liegen lauter Schlüssel, jeder einzelne gehörte zu Türen, die nicht wieder geöffnet wurden und zu Menschen, die den Krieg nicht überlebten.

Hat auch Ihre Familie eine Flucht-Geschichte?

Der alte Stoffbeitel mit den Haustürschlüsseln meiner geflohenen Urgroßmutter
Der alte Stoffbeutel mit den Haustürschlüsseln meiner geflohenen Urgroßmutter

 

4 Gedanken zu „Die Schlüssel aus Breslau

  1. In einer meiner Vitrinen steht ein recht prunkvolles Kaffeeservice aus der Karlsbader Gegend. Meine Großtante bekam dieses Service von ihrem Mann zur Hochzeit in den 30ern geschenkt. Meine Großtante wohnte damals im ergebirgischen Försterhäuser nahe der Stadt Platten, dem heutigen Horni Plattna. Sie mußte den Weg der Vertreibung allein antreten, da ihr Mann noch nicht zurückgekehrt war. Sie lies ein Haus, ein Gemischtwarengeschäft und ihre geliebte Aussteuer zurück, die noch relativ neu war. Es waren 50 kg Handgepäck erlaubt. Sie stopfte ihre Taschen mit Porzellan voll. Man riet ihr, lieber ans Essen zu denken, aber sie wollte nicht alles verlieren. Die Reise ging im Güterwaggon über Österreich nach Nordbayern, wo sie in Helmbrechts bis zu ihrem Tod Ende der 80er Jahre lebte. Sie hatte keine Kinder und ihre Ehe zerbrach an den Umständen dieser Zeit. Dennoch war sie mit ihrem Bruder und ihren Eltern wieder vereint. Mein Großvater heiratete meine Großmutter, deren Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Grenze auf ostdeutscher Seite lag. Da es in Nordbayern keine Nachkommen der Familie mehr gibt, gelang das Kaffeeservice noch zu DDR-Zeiten zu meinem Großvater, da dieser Enkel hat, nämlich mich. Das Service ist bis heute vollständig erhalten. Es hat die Vertreibung ohne einen Kratzer überlebt. Als es dann bei meiner Oma auf der Anrichte stand, warf die Katze eine Blumenvase um und an einer Untertasse brach ein kleiner Splitter heraus, den ich mal fachmännisch wieder anbringen lassen werde. Der alte Glanz ist noch wie neu und man könnte sagen, es ruht ein besonderer Segen darauf. Mein Großvater schenkte mir, kurz vor seinem Tod, das Service zum 21. Geburtstag. Es ist nun meine Aufgabe diese Erinnerung für die nächste Generation unserer Familie zu erhalten. Bei einem Unglück wäre es mit das Erste, was ich retten würde.

    Annett

  2. genau so war es in meiner Familie auch. Meine Oma stammte auch aus Breslau. Ich habe ihre alte Wohngegend besucht, es war schön diese Verbindung herzustellen.

  3. Was für eine rührende Geschichte!

    Ich vermute, dass sehr viele von uns Vorfahren mit Flucht-Erlebnissen haben.
    Von meinen Großeltern lasse ich mir auch, sooft es geht, ihre Erinnerungen erzählen. So ist mein Großvater in der Nacht vor der Bombardierung Dresdens als kleiner Junge (am 14. Februar 1945, seinem 6. Geburtstag) noch gerade so aus der Stadt geflohen, bevor sie vollends zerstört wurde. Auf dem Weg fuhr er durch so viele Städte, die alle ebenfalls in Flammen standen.
    Ein eigenartiger Gedanke, dass es ihn und uns folgende Generationen so knapp nicht gegeben hätte…
    Ich hoffe, dass sich noch viel mehr junge Menschen mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen. Eine ganz wunderbare Idee.
    Victoria

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert